Die Grundschule als Ort qualitätsvoller Bildungsarbeit
Podiumsdiskussion des Grundschulverbandes und der GEW in der Wilhelmsschule Untertürkheim
Gute Bildungspolitik, die echte Qualität und nicht ständig neue Baustellen und Unruhe in die Schulen bringt, ist eine parteienübergreifende Aufgabe und viel zu wichtig, um sie ständig wechselnden Mehrheitsverhältnissen je nach Legislaturperiode zu überlassen – das war der Konsens bei einer Podiumsdiskussion der GEW und des Grundschulverbandes. Es diskutierten Ministerialdirigent Vittorio Lazaridis aus dem Kultusministerium, die Bildungspolitiker Daniel Born (SPD) und Dr. Timm Kern (FDP) und die GEW-Vorsitzende Doro Moritz mit Rektor Levin Lüftner unter der Moderation von Christoph Straub aus dem Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Albstadt.
Eingangs begrüßten die Gastgeberinnen vom Grundschulverband und von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Prof. Dr. Claudia Vorst und Doro Moritz, die Podiumsteilnehmer und die knapp 80 Besucherinnen und Besucher. Vorst gab einen kurzen Überblick über aktuelle Themen, oft leidige und wissenschaftlich unhaltbare Vorurteile wie das angebliche „Schreiben nach Gehör“ und andere, die den GSV insgesamt in den letzten Monaten immer wieder in Atem gehalten hatten. Sie wies auf das Thema Digitalisierung als große Zukunftsaufgabe hin, zu dem aktuelles Material vorliegt, und freute sich über den medialen Erfolg des „Faktenchecks Grundschule“, ein 28 Seiten umfassendes Heft, das der Bundesgrundschulverband vor kurzem herausgegeben hatte. Moritz umriss in mehreren Thesen zu Beginn und nach dem Input-Vortrag von Levin Lüftner ihre Vorstellungen einer zeitgemäßen, kindorientierten, gut ausgestatteten Grundschule und kritisierte Äußerungen der Kultusministerin, die bewusst einen „Keil zwischen Schule und Elternhaus treibe““.
„Drei Wünsche an die gute Fee in Stuttgart“ äußerte Schulleiter Lüftner im Anschluss an seinen Eingangsvortrag mit lebendigen Bildern des Schulalltags an seiner Weinsberger Grundschule, mit betroffen machenden Schilderungen über Kinder ohne Frühstück, mit unbezahlten Mensakosten und fehlenden Arbeitsmaterialien, des Nachts allein gelassen, mit der Versorgung von Geschwisterkindern belastet oder mit Teilleistungsschwächen wie LRS oder Dyskalkulie behaftet – oder gleich einer Kombination aus mehreren dieser Faktoren, die Kindsein zu alles anderem als einer idyllischen Phase machen und gelingende Bildungsbiographien erschweren können. Hinzu kämen auf der anderen Seite unerfüllbare und zum Teil abenteuerliche, lernpsychologisch unhaltbare Forderungen von Eltern oder auch Elterninitiativen – wie beispielsweise eine aktuell laufende nach mehr Frontalunterricht. Eine große Herausforderung für die Schule sei zudem die Zahl der Kinder, die nicht mehr am Religionsunterricht teilnehmen. Da es noch keinen Ethikunterricht gibt, müssten bis zu 50% der Kinder erstens irgendwie anders betreut werden, ohne dass hierfür Stunden vorgesehen seien, zweitens aber – dies noch viel kritischer – bliebe die Hälfte der Kinder so ohne einen Unterricht, in dem gesellschaftliche Grundwerte vermittelt werden. Der erste Wunsch an die „Fee“ lautete deshalb: Ethikunterricht ab Klasse 1, damit alle Kinder Grundwerte vermittelt bekommen.
Lüftner skizzierte die große Heterogenität in den Grundschulklassen anhand von Beispielen. So sei die Zahl der Kinder in den Vorbereitungsklassen angeblich gesunken – dies aber seines Erachtens nur, damit diese Kinder in den Ganztag dürften, um dort viel mit deutschen Kindern gemeinsam zu lernen, zu spielen, ins Sprachbad einzutauchen. Kinder mit Migrationshintergrund sowohl in die VKL als auch in den Ganztag zu geben wäre notwendig, sei in Baden-Württemberg allerdings nicht zulässig.
Sein zweiter Wunsch an die „Fee“ deshalb: endlich die Noten abschaffen in der Grundschule – denn es gäbe „so viel nicht Messbares in der qualitätsvollen Bildungsarbeit“, und so viel wäre notwendig, beispielsweise im Ganztag, der Rhythmisierung, die Verlässlichkeit brauche, wenn man die vier Bildungsformen nach Peter Petersen betrachte: miteinander sprechen, spielen, feiern und arbeiten.
Anschließend blickte Lüftner auf das pädagogische Fachpersonal. So sehr seien die Lehrerinnen gefordert, die, zumeist in Teilzeit, doch beinahe so viel leisteten wie ihre Vollzeitkolleginnen: als Klassenlehrerin, bei allen Ausflügen, Kooperationen und in Vertretungsstunden – unter denen übrigens am meisten diejenigen leiden, die aus Krankheitsgründen vertreten werden müssen und die, kaum genesen, mit rabenschwarzem Gewissen Kuchen backen und Dankesschilder malen, weil sie genau wissen, dass sie die anderen belastet haben. Der dritte und letzte Wunsch an die Fee deshalb: mehr Ressourcen – im Kontingent, im Ganztag und endlich auch als Krankheitsvertretung.
Doro Moritz schloss hier an: „Grundschule ist nicht dazu da, den weiterführenden Schulen fertige Kinder zuzuführen!“ Die Grundschule brauche die beste Ausstattung – und die beste Lehrer-Schüler-Relation. Ausgerechnet hier stehe Baden-Württemberg auf dem letzten Platz aller Bundesländer, dabei habe nur Bremen einen noch höheren Anteil an Migranten. Die weiterführenden Schulen seien im Gegensatz zur Grundschule mit 10 bis 20 Poolstunden ausgestattet.
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion umriss zunächst Ministerialdirigent Vittorio Lazaridis, Leiter der Abteilung 3 des Kultusministeriums, seine eigene schwäbische Bildungsbiographie als Kind italienisch-griechischer Einwanderer. Die Grundschule mache aus, „dass sie das Potenzial erkennt.“ Der FDP-Politiker Dr. Timm Kern erklärte, Politik schaffe Rahmenbedingungen, und die beste Bildungspolitik sei diejenige, die wenig Politik benötige, um viel Bildung zu erreichen. Sein Wunsch, weniger an die „Fee“ als an die anwesenden und nicht anwesenden Parteienvertreter gerichtet: ein „Schulfrieden“ der Parteien über mehrere Legislaturperioden hinweg. Daniel Born von der SPD fragte zunächst nach der Definition von bildungspolitischem Erfolg – verbesserte IQB-Ergebnisse, Vergleiche mit anderen Bundesländern? Seit dem PISA-Schock befinde sich das Land doch in einem fortdauernden „Panikmodus“. Dabei würden die KMK-Empfehlungen von 2017 längst praktiziert, und längst sei klar, was Grundschule benötige: „Zeit, Räume, Ausstattung und Wertschätzung.“ Sein Fazit: Eine „Enquête-Kommission“ könnte der richtige Weg sein, um dies für die Grundschule durchzusetzen. Hierzulande gewinne man nämlich gelegentlich den „Eindruck, das baden-württembergische Kind werde erst mit zehn Jahren geboren“. Doro Moritz warf skeptisch ein, eine sehr erfolgreich arbeitende Enquête-Kommission habe es zwar dereinst für die berufliche Bildung gegeben. Die CDU als Regierungspartei sei jedoch zur Zeit nicht bereit, eine solche auch für die Grundschule einzuberufen. „Die Grundschulen müssen lauter werden!“, resümierte sie, sofort unterstützt von Kern: Die Politiker hörten in der Tat auf diejenigen Interessensgruppen und Verbände, die am lautesten schreien.
„Schade, dass die Regierungsparteien beide nicht vertreten sind“, bedauerte Lazaridis, „gibt es sie überhaupt noch?“ [Anm.: Die CDU hatte von vornherein niemanden zur Veranstaltung entsandt, während die Grüne Sandra Boser auf dem Weg zur Veranstaltung eine Autopanne ereilte.] Der Grundschulverband solle bitte den Gesprächsfaden ins Kultusministerium aufnehmen. Seine Tür stehe weit offen, arbeite das Ministerium doch gerade intensiv an Baustellen wie etwa der Einrichtung von Ethikunterricht ab Klasse 1, der Weiterentwicklung der Vorbereitungsklassen wie auch des Ganztags. Moderator Christoph Straub fragte in die Runde, ob Bildung in der allgemeinen Diskussion nicht zur Zeit viel zu sehr reduziert werde auf „Deutsch, Deutsch, Deutsch und ein bisschen Mathe – und in Deutsch auf Rechtschreibung: Ist das nicht ein stark verkürztes Verständnis, fehlen nicht die musisch-ästhetischen Fächer?“ Nicht nur diese, meinte Lüftner und strich die bedeutende Rolle des Sachunterrichts etwa bei der Beheimatung von Kindern heraus.
Nach einigen Wortwechseln über die Übergänge in der Bildungsbiographie, den Sinn und Unsinn von Strukturdebatten und die Betrachtung von Input-Output-Relationen, die begriffliche Absurdität einer verbindlichen Grundschulempfehlung oder die notwendige Anzahl der Abiturienten in einem Land stieg das Publikum in die Diskussion ein. Es waren zunächst Schulleiterinnen und Schulleiter, die fragten: wie Kinder optimal zu fördern seien, die niemals im Kindergarten waren und mit großen Defiziten in die Schule kämen; wie mit einer einzigen Kooperationsstunde pro Schule, die nur an eine einzige Person vergeben werden kann, die tatsächliche Zahl von 25 Kooperationen mit diversen Kindertageseinrichtungen und anderen Institutionen abgegolten werden könne; wie ohne einen einzigen Besprechungsraum an ihrer Schule die demnächst obligatorisch zu führenden Beratungsgespräche geleistet werden sollten – auf dem Flur oder im Gasthaus gegenüber? Eine von vielen Forderungen an die Politik: „Mehr Grün, mehr Schulhof, mehr Platz für Gespräche!“ Born erwiderte, hier sehe er ganz klar einen „Webfehler im Subsidiaritätsprinzip“: Der Bund wie auch das Land müssten die Kommunen und Schulträger unterstützen dürfen. Dass einer Schule in Burundi, nicht aber in Böblingen geholfen werden dürfe, sei untragbar, aber an der nötigen Grundgesetzänderung arbeite die große Koalition ja gerade. Eine Seminardirektorin äußerte sich kritisch zur grassierenden Vorstellung, „alleine datengestützt“ gelange man „zu Qualität im Unterricht“. Die Daten in den Bildungsstudien werden doch gerade losgelöst von Unterricht erhoben; sie sieht die Gefahr eines „Teaching to the test“. Und vehement beklagte ein älterer Schulleiter am Schluss, ihn ärgere schon „lebenslang die Unterschätzung der Grundschule“.
Ob Schulfrieden, Enquête-Kommission, ein „Runder Tisch Grundschule“ oder weit offene Türen ins Kultusministerium – der erste Teil des Grundschultages hat neben einer differenzierten Diagnose des aktuellen Zustands in den Schulen ein überraschend einhelliges Fazit erbracht: Es muss endlich wieder mehr miteinander geredet werden. Und dort, wo Reden nicht hilft, muss vielleicht der eine oder die andere auch – laut angerufen werden. Im Interesse einer kindorientierten, qualitätsvollen Bildungsarbeit in der Grundschule.