Philologenverband und Realschullehrerverband wollen die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung wieder einführen und damit zurück in die Vergangenheit.
Die Landesgruppe hat hierzu Stellung genommen:
17. Januar 2021
Stellungnahme zur gemeinsamen Pressemitteilung des Philologen- und des Realschullehrerverbands: Gebt der Grundschulempfehlung die Verbindlichkeit zurück!
Offensichtlich kommen Gymnasien und Realschulen – trotz ihrer großzügig bemessenen Poolstunden zur Differenzierung – mit der Unterschiedlichkeit ihrer Schüler*innen nicht zurecht. Was sollten da eigentlich die Grundschulen fordern, die bis heute keine solche zusätzlichen Poolstunden erhalten und doch offensichtlich in der Lage sind, mit der zweifellos größten Heterogenität ihrer Schüler*innen umzugehen?
Zur Homogenisierung ihrer Schülerschaft schlagen die beiden Verbände unisono in einer gemeinsamen Pressemitteilung vor, die Grundschulempfehlungen wieder verbindlich werden zu lassen. Der Elternwunsch muss sich dann – wie lange Zeit praktiziert – der Empfehlung der Grundschule beugen.
Der Grundschulverband – Landesgruppe Baden-Württemberg nimmt dazu wie folgt Stellung:
Die Notwendigkeit, Grundschulempfehlungen auszusprechen, beruht auf einer Annahme und einer historischen politischen Entscheidung:
Die Annahme:
Eine Entwicklungsempfehlung im zweiten Halbjahr der vierten Klasse auszusprechen, basiert auf der Annahme, dass Entwicklungen vom Kind zum Jugendlichen und jungen Erwachsenen als im Grunde linear verlaufend gesehen werden. Was also das Kind der vierten Klasse leistet, lässt verlässlich darauf schließen, wie sich dessen Entwicklung in den nächsten Jahren gestalten wird. Nur auf diesem Hintergrund können Grundschulempfehlungen als hinweisentscheidend für Schullaufbahnen verstanden werden.
Wir alle wissen jedoch, dass spätestens mit Eintritt in die Pubertät vielfach erhebliche Entwicklungsbrüche auftreten (können). Schullaufbahnempfehlungen in Klasse vier auszusprechen gleicht einer Lotterie und erfolgt zweifellos viel zu früh. Dies erweisen auch Längsschnittuntersuchungen zur Treffsicherheit von Grundschulempfehlungen. Der Grund hierfür liegt allerdings nicht an der Unfähigkeit der Grundschulen, sondern an den grundsätzlichen Unwägbarkeiten, Entwicklungsverläufe mit Wahrscheinlichkeit vorhersagen zu können.
Die historische politische Entscheidung:
1919 wurde entschieden, eine für alle verbindliche – und damit demokratische – Einheitsschule („Ein Volk – eine Schule“) zu installieren. Erst ein Jahr später wurde deren Dauer auf vier Jahre begrenzt. Damit war die Grundschule in ihrer heutigen Form geboren. Bis heute gibt es keine pädagogisch-psychologische Begründung für diese lediglich vierjährige Grundschulzeit. Außer Deutschland und Österreich praktiziert kein europäisches Land eine solch frühzeitige Selektion. In der Folge davon erlangt die Selektionsfunktion der Grundschule spätestens ab Klasse drei immer größere Bedeutung und wird schließlich in Klasse vier ausschlaggebend für die Arbeit der Lehrkräfte (auch wenn diese dies eigentlich nicht wollen). Auf Kinder, Lehrkräfte und oft auch Eltern lastet großer Druck. Dies geht vielfach zu Lasten einer Pädagogik, die kein Kind verloren geben will. Und gerade dies müsste doch eigentlich für ein Land von entscheidender Bedeutsamkeit sein, dessen größte Ressource nicht im Boden, sondern in den Gehirnen deren Mitglieder liegt.
Der Grundschulverband stellt fest:
„Das überkommene gegliederte Schulsystem steht im Widerspruch zu einem inklusiven Schulwesen. Die frühe Auslese nach Klasse 4 festigt die gesellschaftliche Spaltung, sie manifestiert und verschärft Bildungsungerechtigkeit und wirkt nachteilig auf die pädagogische Arbeit und die Lernkultur der gesamten Grundschulzeit. Der Grundschulverband tritt deshalb für ein längeres gemeinsames Lernen aller Kinder ein.
Um die schädlichen Wirkungen der frühen Auslese wissen alle Bildungsverantwortlichen. Trotzdem ist die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems nicht viel weitergekommen. Selbst die Verpflichtung durch die Unterzeichnung der UN-Konvention im Jahr 2009 hat daran nichts Wesentliches geändert.“
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es aus unserer Sicht aus pädagogischen Überlegungen, aus Gründen des Kinderrechts sowie aufgrund der Ansprüche, die aus der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention folgen, dringend notwendig ist, das bestehende Schulsystem so zu reformieren, dass längeres gemeinsames Lernen eine Grundschulempfehlung in Klasse 4 überflüssig werden lässt.
Empfehlung:
Da diese Forderung kurzfristig nicht in Erfüllung zu gehen scheint, geben wir folgende Empfehlungen:
Die Grundschullehrkräfte führen mit Eltern und Kindern über die gesamte Schulzeit hinweg mindestens einmal im Schulhalbjahr Lernentwicklungsgespräche.
Ab Klasse drei fließen in diese Gespräche Schullaufbahnüberlegungen und in Klasse vier intensive Laufbahnberatungen ein.
Gezielte Angebote der Lehrkräftefortbildung unterstützen die Lehrkräfte dort, wo diese Beratungskompetenz nicht hinreichend vorhanden ist.
Für die notwendige Kooperation zwischen Grundschulen und weiterführenden Schulen werden für die Lehrkräfte der vierten und fünften Klassen ausreichend Personalressourcen bereitgestellt. Dies ist notwendig, um sich gegenseitig zu verstehen, voneinander zu wissen und so Brüche im Übergang möglichst zu vermeiden.
Die Entscheidung über die Wahl der Schulform ihrer Kinder verbleibt – nach der Schullaufbahnberatung – bei den Eltern.
Nach der Aufnahmeentscheidung der weiterführenden Schulen wird ein Austausch zwischen Grundschule und weiterführender Schule über einzelne Schüler*innen datenschutzrechtlich ermöglicht.
Im übrigen drängt sich die Frage auf, ob Angesichts der pandemischen Situation aktuell nicht ganz andere schulische Fragen im Fokus stehen sollten?
Freiburg, den 17.01.2021
Dipl.-Päd. Edgar Bohn
Vorsitzender der Landesgruppe Baden-Württemberg