Die Diskussion um die volkstümlich als „Schreiben nach Gehör“ bezeichnete „Methode“ nimmt zeitweise wieder Fahrt auf. Auch der Grundschulverband Baden-Württemberg ist immer wieder hierzu befragt und teilweise missverständlich zitiert worden. Einige beliebte Missverständnisse möchten wir gerne ausräumen und überlegen, worum es eigentlich geht:
- Zuerst eine Klarstellung: „Schreiben nach Gehör“ ist keine Methode. Der Begriff ist sehr populär und klingt griffig, er ist aber wissenschaftlich nicht satisfaktionsfähig.
- Na gut, aber irgendetwas ist damit ja gemeint. Was bedeutet also „Schreiben nach Gehör“? Hiermit wird zunächst gern die Arbeit mit einer so genannten Anlauttabelle im Anfangsunterricht zur Unterstützung des lautorientierten Schreibens bezeichnet, allerdings nicht nur das: „Schreiben nach Gehör“ unterstellt eigentlich noch mehr: „Funktioniert Rechtschreiben nach Gehör? Wohl kaum!“. Der Begriff suggeriert, bei der Arbeit mit der Anlauttabelle werde gleichzeitig auf ein zugehöriges Rechtschreibkonzept von Anfang an verzichtet – und hiervon handelt der Streit.
- Der Verzicht auf ein Rechtschreibkonzept ist aber nicht das, was der Grundschulverband propagiert. Der Spracherfahrungsansatz nach Erika Brinkmann und Hans Brügelmann sieht von Anfang an Elemente des Rechtschreiblernens verbindlich vor, auch online leicht zu finden unter dem Suchbegriff „Vier-Säulen-Modell“ des Lesen- und Schreibenlernens.
- Wie bei jeder methodischen Konzeption gibt es bei der praktischen Umsetzung schlechte Beispiele. Um es ganz klar zu sagen: Wer nur eine Anlauttabelle als zum Schreiben und Lesen motivierendes Instrument einsetzt, aber nicht die im Konzept des Spracherfahrungsansatzes verbindlich vorgesehene Sicherung eines Grundwortschatzes und die regelmäßige Reflexion von Sprache und Schriftelementen in den Unterricht einbindet, also nicht fest auf allen vier Säulen steht, möge sich hierbei nicht auf den Grundschulverband berufen. (Auch beim Unterricht mit einer Fibel kann übrigens viel schief gehen!)
- Gute Lehrerinnen und Lehrer, ob sie nun den Kindern zur Unterstützung der Einsicht in unser Schriftsystem eine Anlauttabelle anbieten (die in viele Fibeln eingedruckt ist oder ihnen beiliegt) oder auf andere Weise arbeiten, diagnostizieren sicher, ab wann ein Kind über phonologische Bewusstheit verfügt und lautgetreu eigene Wörter und Texte verschriften kann (denn schreiben müssen alle Kinder laut Bildungsplan): Gute Lehrerinnen und Lehrer signalisieren dem Kind, dass sein Text bereits verständlich geschrieben ist, begleiten es dann aber natürlich weiter. Der FATA ist zunächst ein gutes Beispiel für lautorientiertes Schreiben; im Gegensatz zu Kindern, die, anstatt PAPA, FATA oder Vater zu schreiben, ihren Vater malen oder das Wort in Skelettschreibung als FT festhalten, zeigt der Schreiber oder die Schreiberin hier einen großen Entwicklungsschritt.
- Aber: Schreibt ein Kind am Anfang des Schriftspracherwerbs FATA, ist dies noch in Ordnung. Danach beginnt die Rechtschreibung, kommt die Einsicht, dass unsere Schriftsprache zu einem großen Prozentsatz nicht lautgetreu ist. Lesen Sie in der beigefügten PDF-Datei vom_schreiben_zum_rechtschreiben.methodische_formate.180225, wie Kinder beständig und sinnhaft übend vom Schreiben zur Rechtschreibung gelangen.
- Ist der ganze Streit nicht ein riesiges Missverständnis? Ja und nein. Ja, weil niemand die Rechtschreibung geringschätzt oder abschaffen will. Nein, weil der Streit eigentlich auf einer anderen Ebene liegt, die einem ganz anderen Narrativ zugehört, um es neudeutsch zu formulieren: Es geht um Ja oder Nein zu einer pädagogischen Leistungskultur, um die frühe Einforderung von Leistung, um (nicht?) eingeforderte Anstrengungsbereitschaft und vieles mehr.
- Dies wäre eine klare Diskurslinie, hierüber lassen wir gern mit uns streiten bzw. versuchen herauszufinden, wo der Streit anfängt und wo er aufhört. Ob mit Eltern (MUTA und FATA?) oder Bildungspolitikern und Bildungspolitikerinnen. „Streiten mit Gespür“ anstatt „Schreiben nach Gehör“. Denn dieser Begriff gehört in die Mottenkiste.
- Streiten Sie mit – auf dem Grundschultag am 5. Mai 2018 zum Thema „Die Grundschule: Perspektiven qualitätsvoller Bildungsarbeit“ an der Wilhelmsschule in Stuttgart-Untertürkheim.