Veröffentlicht am 17.12.2024
Sehr geehrte Damen und Herren der Landespresse,
anbei erhalten Sie die gemeinsame Pressemitteilung des Grundschulverbands Baden-Württemberg und des Vereins für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg e.V. zur aktuellen Stimmungslage rund um Kompass 4 und die verpflichtende Grundschulempfehlung.
Die Ergebnisse unserer Befragung von fast 1000 aktiv Schulbeteiligten (Allein etwa ein Fünftel der Schulleitungen der Grundschulen haben sich über das zurückliegende Wochenende beteiligt!) zeigen überdeutlich, wie stark die Schulpraxis mittlerweile durch Verwaltungsversagen belastet ist. Trotz vielfacher konstruktiver Rückmeldungen ist bisher nicht erkennbar, wie es hier weitergehen soll.
Statt Entlastung und Objektivität führt der gesamte Prozess zu noch mehr Druck auf alle Beteiligten. Ohnehin benachteiligte Schüler:innen werden durch das Vorgehen noch weiter abgehängt.
Unser gemeinsamer Fokus liegt auf der Zukunftsfähigkeit unserer Schulen und der Stärkung der Kinder und Jugendlichen im Land. Statt kurzfristiger politischer Überreaktionen und System-Flickschusterei braucht es dafür langfristig tragfähige Konzepte. Diese betreffen die Grundschulen – und natürlich die gesamte Schullandschaft in Baden-Württemberg.
Weitere Informationen entnehmen Sie bitte der beigefügten Pressemitteilung – diese basiert weitgehend auf den Freitext-Antworten unserer Umfrage. Gerne stehen wir Ihnen für Rückfragen oder Interviews zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für die bevorstehende Weihnachtszeit
Edgar Bohn, Grundschulverband BW
Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender Verein für Gemeinschaftsschulen in BW e.V.
Pressemitteilung
Kompass 4 und Grundschulempfehlung
Fröhliche Weihnachten: Lehrkräfte und Schulleitungen sind bedient
Die Einführung von Kompass 4 und der verpflichtenden Grundschulempfehlung hat in Baden-Württemberg bei Eltern, Kindern, Schulleitungspersonen und Lehrkräften für Chaos, Überlastung und Vertrauensverlust gesorgt. Der Grundschulverband Baden-Württemberg und der Verein für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg e.V. fordern klare Konsequenzen. Eine aktuelle Befragung unter fast 1000 Lehrkräften und Schulleitungen im Bereich der Primarstufe zeigt die drastischen Auswirkungen: Ein überstürzter Prozess, geprägt von organisatorischen Mängeln, fachlichen Fehleinschätzungen und unzureichender Kommunikation, hat die entscheidenden Akteure unserer Schulen in große Bedrängnis gebracht. Die Stimmung an unseren Schulen könnte schlechter kaum sein.
„Chaos in der Umsetzung, große organisatorische Mehrbelastung, fehlende Transparenz und sowohl fachliche als auch pädagogische Fragezeichen“ – so beschreiben Lehrkräfte die aktuelle Situation. „Diejenigen, die die Kinder am besten kennen, nämlich die Lehrkräfte, werden durch zentralisierte Tests wie Kompass 4 an den Rand gedrängt“, kritisiert Edgar Bohn vom Grundschulverbands Baden-Württemberg: „Ihre pädagogische Einschätzung ist nur als Ausputzer gefragt, während das Vertrauen der Eltern in den gesamten Prozess schwindet.“
Ein mangelhafter Kommunikationsprozess des Kultusministeriums (KM) hat die Lage verschärft. Schulen erhielten Informationen zum Kompass 4-Verfahren zu spät oder in unklarer Form. Bei sofort eingeforderten Eltern- und Schüler:innengesprächen standen und stehen Lehrkräfte oft ohne Antworten da. 81,2 Prozent der Befragten fühlen sich auf die Aufgaben unzureichend vorbereitet, 77,4 Prozent beklagen die hohe Belastung durch die „verbindlichere Grundschulempfehlung“. Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen BW e.V., fragt: „Wie sollen Lehrkräfte Eltern beruhigen, wenn sie aufgrund der überstürzten Einführung und einer fachlichen Fragwürdigkeit von Kompass 4 selbst noch keine Antworten auf zentrale Fragen haben?“
Der Vertrauensverlust bei Eltern, die die Ergebnisse von Kompass 4 nicht nachvollziehen können, ist ebenso alarmierend wie der organisatorische Mehraufwand. Statt auf Unterstützung zu zählen, müssen Lehrkräfte die Fehler der Kultusverwaltung ausbaden – und das mitten im laufenden Schuljahr. 91,7 Prozent der Befragten beklagen, dass ihre Expertise als Schulpraktiker:innen nicht ausreichend gehört wird und gut vier Fünftel werten die Arbeit der Kultusverwaltung als unzureichend.
Ein Versuch des Kultusministeriums, die entstandenen Spannungen durch eine Videokonferenz abzufedern, scheiterte. Weit über 2000 Teilnehmende hatten hinterher mehr Fragen als Antworten. 83,5 Prozent der Befragten bemängelten, dass sie in der Video-Frontal-Beschallung zu Kompass 4 keine ausreichenden Möglichkeiten für Nachfragen hatten. So berichten Teilnehmende, dass die Chat-Funktion abgeschaltet und im Chat adressierte Fragen für andere Teilnehmende nicht einsehbar waren. „Das war ein Versuch der Schadensbegrenzung, der an der Realität der Schulen vorbeiging und der jede Wertschätzung für die Praktiker:innen an unseren Schulen vermissen lässt“, so die Verbände.
Vertrauen wiederherstellen, Schulen entlasten
Die Schulverbände machen unmissverständlich klar, dass es zeitnah strukturelle Veränderungen braucht, um das Vertrauen in die Bildungsprozesse vor allem aber in die Kultusverwaltung wiederherzustellen:
1. Sofortige Aussetzung der verpflichtenden Grundschulempfehlung bis eine tragfähige und rechtlich sichere Grundlage geschaffen ist und die fachlichen Mängel von Kompass 4 beseitigt sind. Die Einführung solch tiefgreifender Veränderungen muss immer wissenschaftlich unterfüttert sein.
2. Reduktion des bürokratischen Aufwands durch vereinfachte Abläufe und digitale Verfahren.
3. Transparente Kommunikation rund um Kompass 4 und den kommenden Potenzialtest sowie klare Handlungshinweise für Lehrkräfte und Schulleitungen.
4. Verlässliche Einbindung der Praxisexperten: Lehrkräfte und Schulleitungen direkt aus der Schulpraxis müssen aktiv in die Weiterentwicklung der Verfahren einbezogen werden. Gerne machen die betroffenen Interessensvertretungen konkrete Vorschläge dazu.
5. Mehr Ressourcen für guten Unterricht, um die individuelle Förderung von Kindern in den Mittelpunkt zu stellen und Bildungsgerechtigkeit zu mehr als einem Buzzword zu machen. Datengestützte Schul- und Unterrichtsentwicklung ist nur ein allererster Schritt, um Bildungsgerechtigkeit zu fördern.
6. Respekt und Wertschätzung für den enormen Einsatz und die wichtige Arbeit der Lehrkräfte und Schulleitungen.
Bildung braucht sinnvolle Veränderung, vielfältige Beteiligung und keine Bürokratie
„Bildung ist der Schlüssel zu unserer Zukunft“, betont Grundschulvertreter Edgar Bohn. „Doch wenn wir die Expertise der Lehrkräfte ignorieren, sie mit organisatorischen Hürden belasten und einem noch angespannteren Verhältnis mit den Eltern aussetzen, gefährden wir ihre Motivation – und damit die Zukunft der Kinder.“ Gemeinschaftsschulsprecher Matthias Wagner-Uhl ergänzt: „Lehrkräfte und Schulleitungen sind letztlich diejenigen, die die Zukunft des Landes sichern. Sie verdienen Unterstützung, keine zusätzlichen Lasten – hier muss die Kultusverwaltung entscheiden, ob sie obrigkeitshörige Befehlsempfänger oder zukunftsbereite und entwicklungsorientierte Herzblutpädagog:innen will.“
Die Sprecher der Verbände fordern die Einrichtung einer Enquetekommission „Bildungszukunft Baden-Württemberg“ allerspätestens direkt zum Beginn der nächsten Legislaturperiode, sowie einen umfassenden gesellschaftlichen Beteiligungsprozess zur überfälligen Umgestaltung unseres international nicht mehr anschlussfähigen Schulsystems.
Kritik der Kultusbürokratie an dem Aufschrei der Schulwelt weisen die beiden Interessensvertreter entschieden zurück : „Es ist vielmehr bedenklich, dass sich die Schulwelt über solche Umfragen und das Informieren der Öffentlichkeit Gehör verschaffen muss, weil die Kultusverwaltung versucht, im Geiste der Schule vergangener Jahrhunderte mit Anweisungen und Dienstbesprechungen durchzuregieren, statt eine Kultur der Transparenz und Resonanz zu leben.“