Das Planungspapier für das Schuljahr 2020/2021 liegt den Schulen endlich vor. Sie wissen jetzt, was auf sie zukommt. Zusammen mit dem Verein für Gemeinschaftsschulen e.V. haben wir dazu folgende Pressemitteilung verfasst:
Ministerielle Mogelpackung
Mit ihrem Schreiben zur Gestaltung des neuen Schuljahres in der Schule@Corona beglückt die Kultusministerin die Schulen im Land mit neuen Wunschlisten, die diese nun abarbeiten sollen. Den Beifall ihrer Wählerklientel wähnt sich die CDU-Spitzenkandidatin sicher. Die Schulen hingegen stellt der Forderungsrahmen vor neue, kaum zu bewältigende Aufgaben.
Ein „Regelbetrieb unter Pandemiebestimmungen“, mit diesem Euphemismus beschreiben die Verantwortlichen die Aussichten auf einen Schulalltag nach den Sommerferien. Der Öffentlichkeit gefällt’s: Wer wünscht sich nicht eine Rückkehr zur Normalität? Oder ist es doch eher eine vermeintliche Normalität, also das vielbeschworene „neue Normal“ was die Schulgemeinschaften im September erwartet: Mundschutz, Frontalunterricht, Einbahnstraßenregelung und weiterhin massiver Unterrichtsausfall. Während Otto Normalverbraucher von einer Schulöffnung im altvertrauten Stil träumt, sitzen die Schüler:innen mit ihren Lehrenden im Durchzug und hoffen unter ihren Masken auf einen langen Altweiber-Sommer.
„Die Ministerin reagiert auf den erhöhten öffentlichen Druck und versucht Rahmenbedingungen für einen ‚Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen‘ zu schaffen – doch allein das Wording suggeriert eine Normalität, die es an den Schulen kaum geben wird“, sagt Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender des Vereins für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg e.V. In einer hektischen Korrektur versuche die Kultusministerin, Planungsfehler und Versäumnisse der vergangenen Monate zu korrigieren. Als Resultat präsentiert sie den Schulleitungen ein Forderungspapier, dessen Lösungsseite schwach auf der Brust ist wie ein Corona-Patient bei der Genesung: „Das sieht nach außen gut aus und wird in schulfernen Kreisen vermutlich Applaus finden – in vielen Details ist dieses Wünsch-Dir-Was an den Schulen allerdings kaum umsetzbar“.
Denn dort geht es schon lange vor Corona nur noch um So-ist-es: Lehrermangel und die Herausforderungen durch die Diversität in den Klassenzimmern sind Phänomene, die seit Jahren diskutiert werden. Lösungen bleibt die Kultusministerin jedoch schuldig. Die Schule@Home hat nun die leistungsmäßige Spreizung innerhalb von Klassen und Lerngruppen weiter aufgerissen. Das vorgelegte Konzept der Lernbrücken kann hier nur im begrenzten Maße entgegen wirken. Nach den Ferien sind die Lehrenden im Land mit einer erweiterten Heterogenität konfrontiert, auf die man außerhalb von Gemeinschaftsschulen und Grundschulen nur wenige seriöse Antworten hat. Eltern werden dann noch tiefer in die Tasche greifen müssen, um auf dem Nachhilfemarkt einzukaufen, was an den Schulen nicht mehr zu leisten ist.
„An den Schulen fehlt von vornherein die personelle Ausstattung für die Umsetzung dieses neuen Ministerinnen-Papiers“, sagt Edgar Bohn, Vorsitzender des Grundschulverbandes, Landesgruppe BW. Denn der ohnehin schon massive Lehrermangel und die resultierenden Lücken bei der Unterrichtsversorgung werden zum neuen Schuljahr dramatisch zunehmen. Zur üblichen Massierung von Herbsterkrankungen kommt z. B. die psychische Belastung von Lehrer:innen im Corona-Betrieb und eine Welle von Schwangerschaften. „Da können die Schulen froh sein, wenn sie den Laden überhaupt einigermaßen aufrechterhalten können – von ‚Regelbetrieb‘ zu sprechen, ist da regelrecht zynisch“, ergänzt Matthias Wagner-Uhl. Trotzdem verweigert die Ministerin den Schulen selbst angesichts der absehbaren Notlage jegliche konkrete Hilfe und blockiert die Mitarbeit von Studierenden sowie Lehramtsabsolvent:innen mit Durchschnittsexamen.
Der im Papier aufgelistete Hybridunterricht erweist sich wie schon so oft bei ministeriellen Verlautbarungen als Ente: „An den meisten Schulen fehlt die grundlegende technische Ausstattung, um selbst eine moderate Form von Hybridunterricht abhalten zu können – die Kommunikation mit den Schüler:innen auf Distanz ist teilweise hoch-schwierig, oft fehlen seriöse digitale Plattformen und die vollmundige Ankündigung der Nutzung von Threema-Messenger lässt die eigentlichen Abnehmer von Schule nämlich die Kinder und ihre Eltern außen vor“, beschreibt Wagner-Uhl die klägliche Ausstattung vieler Schulen für die Anforderungen der Schule@Corona. Auch die avisierte Anschaffung von einigen hunderttausend Laptops oder Tablets wird an der eigentlichen Misere wenig ändern. Nun fällt den 1,5 Millionen baden-württembergischen Schulkindern die seit Jahren verschleppte Digitalisierung auf die Füße. Und das nur, weil die verantwortliche Kultusministerin hoffte, die Digitale Transformation sei ein Spuk, der vorbei ginge. „Hinzu kommt, dass die angebotenen Tools wie beispielsweise die Plattform Moodle, für Grundschulkinder gänzlich ungeeignet sind!“, pocht Edgar Bohn auf die Bedürfnisse der rund 370.000 Grundschüler:innen an etwa 2.500 Grundschulen im Land.
Das Fazit ist ernüchternd: Die Kultusministerin präsentiert der Öffentlichkeit ein Wunschkonzert zur Erfüllung der Sehnsucht der Menschen nach “Normalität”. Statt dem Wohlergehen von Schulen und beteiligten Menschen hat die CDU-Spitzenkandidatin das Wahlvolk im Blick.
Um die gestellten Forderungen und präsentierten Rahmenbedingungen zu realisieren, reiben sich die für die Umsetzung verantwortlichen Schulleitungen zwischen Schulverwaltung und Schulträger immer weiter auf. Wie viele der Kolleg:innen bezweifeln Bohn und Wagner-Uhl, dass Inhalte und Forderungen des Ministerinnenpapiers mit Praktiker:innen aus der Schulpraxis ausführlich besprochen wurden. Denn die genannten Punkte sind in der Realität nur teilweise und höchst unterschiedlich an den verschiedenen Schulen im Land umsetzbar. Was das bedeutet? Der Wettbewerbsdruck zwischen den Schulen wird angeheizt. Statt sich um das Kerngeschäft von guter Schule und gutem Unterricht zu kümmern, werden weitere Nebenschauplätze eröffnet und so wertvolle Ressourcen der ohnehin schon ausgelaugten Schulgemeinschaften gebunden. Leidtragende dieser kurzsichtigen Strategie sind die Schüler:innen und alldiejenigen, die an den Schulen arbeiten!
Auf lange Sicht wird das aktuelle Führungsgeschehen die Schulwelt nachhaltig verändern: „Ihre Krokodilstränen angesichts des zunehmenden Lehrermangels sowie dramatisch anwachsender Schulleitungsvakanzen können sich die Verantwortlichen künftig sparen“, findet Wagner-Uhl. Wer angesichts solcher Arbeitsbedingungen noch Freude an der Arbeit in der Schulleitung findet, habe den Gipfel der Resilienz klar erreicht. Zum Glück gibt es noch genug Menschen wie ihn und zahlreiche Kolleg:innen, die trotz schwierigster Bedingungen nach wie vor ihr Bestes für die Zukunft ihrer Schüler:innen geben.
Edgar Bohn, Vorsitzender der Landesgruppe Baden-Württemberg im Grundschulverband
Matthias Wagner-Uhl, Vorsitzender Verein für Gemeinschaftsschulen in BW e.V.
veröffentlicht am 10.07.2020